Tabuisierung

Darüber spricht man doch nicht - oder doch?

Von Nadine Effert · 2021

Oft ist in westlichen Ländern von einer „Gesellschaft ohne Tabus“ die Rede. Doch man muss keine großen Analysen anstellen, um festzustellen: Die gibt es nicht. Was sind Tabus, worüber sprechen die Deutschen nur ungern und warum?

Frau, die ihren Zeigefinger vor den Mund hält.
Schweigen ist bei Tabuthemen selten die richtige Entscheidung. Foto: iStock / Deagreez

Einst stellte der Kosmopolit und Autor Raymond Walden (*1945) fest: „Im tabubeladenen Schweigen erstirbt erst das Belanglose, bald darauf das Nennenswerte.“ Warum man sich bei manchen Themen lieber in Schweigen hüllt, Tabus aufrechterhält anstatt sie zu brechen, das hat viel mit Sozialisation zu tun. Mit Tabus wächst man auf. Meist ohne große Erklärung, sondern mit dem seit der Kindheit vertrauten, peinlich berührten Satz: „Darüber spricht man nicht“. Vermeintliche Tabus werden selten hinterfragt, man verdrängt sie lieber, schließlich ist das „Darüberreden“ mit unangenehmen Gefühlen verbunden – Scham, Unbehagen, Angst, Hilflosigkeit. Jeder Mensch hat auch eine persönliche Liste der Angelegenheiten, die er nicht unbedingt zum Mittelpunkt der Konversation machen möchte oder über die er lieber gar kein Wort verliert. Oft handelt es sich dabei in der Regel um Bereiche, die wunde Punkte berühren. Das betrifft Aspekte, die insbesondere bestimmte Zustände der Körperlichkeit ansprechen, beispielsweise Sexualität, Alter, Krankheit und Tod. Für viele Menschen ebenso in der Tabu-Zone befinden sich die eigenen persönlichen oder finanziellen Verhältnisse.

Sparschwein
Finanzielle Absicherung sollte – im Hinblick aufs Alter – mehr Beachtung bekommen.

Tabuisierung mit Folgen?

Wenn es um Geld geht, halten sich die Deutschen tatsächlich gerne bedeckt. Das belegt zum Beispiel eine Emnid-Umfrage im Auftrag der Postbank. Ob Gehalt, Erbschaft oder der Erlös aus dem Hausverkauf: Für knapp 64 Prozent der Befragten ist Geld ein Tabuthema. Das Schweigen über Geldangelegenheiten kommt bei Männern (63 Prozent) ebenso wie bei Frauen (64 Prozent) und quer durch alle Bildungs- und Einkommensschichten vor. Ein weiteres Resultat der Befragung: Wer wohlhabend ist, behält auch das lieber für sich: Nur vier Prozent der Bundesbürger, die sich für finanziell erfolgreich halten, machen daraus kein Geheimnis. Gesellschaftliche Konventionen und Vorurteile spielen dabei eine Rolle. Hierzulande – im Gengensatz etwa zu den USA – wird man als offensichtlicher Großverdiener schnell als protzig abgestempelt. Auch die Angst vor Neid ist ein Faktor. Umgekehrt befürchten viele Menschen mit geringeren Einkünften als nicht allzu erfolgreich wahrgenommen zu werden. Natürlich muss man mit seinem Verdienst oder Vermögen nicht hausieren gehen, jedoch warnt Thomas Walter, Personalexperte bei der Postbank: „Die Tabuisierung von Geld kann jedoch fatale Folgen haben, etwa weil man Hemmungen hat, mit dem Chef über eine Gehaltserhöhung zu sprechen, oder aber die private Altersvorsorge oder Geldanlage schleifen lässt.“

Sich aktiv einbringen

Neben  der finanziellen Absicherung fürs Alter ist auch die Vorsorge mit Blick auf den eigenen Tod nichts, was auf die lange Bank geschoben werden sollte. Der Umgang mit Tod und Trauer ist so vielfältig wie die Kulturen der Welt, und auch jeder Mensch geht damit anders um. Wenngleich für die meisten Menschen der westlichen Kultur Sterben, Tod und Trauer Themen sind, worüber man nur mit großem Unbehagen spricht, und wenn dann nur im engeren sozialen Umfeld. Jedoch machen sich viele, auch inzwischen jüngere Menschen zumindest Gedanken über das eigene Ableben.

In der FriedWald „Jenseitsstudie 2020“ gaben mehr als 80 Prozent der befragten über 40-Jährigen in Deutschland an, sich schon einmal Gedanken über ihren eigenen Tod gemacht zu haben. Heute ist es den meisten Ü40 ein zentrales Anliegen, dass Angehörige und Freunde nach dem eigenen Tod möglichst schnell wieder Lebensfreude erlangen. Dazu gehört es für 64 Prozent, dass mit dem eigenen Tod möglichst keine finanzielle oder langfristige emotionale Belastung für die Hinterbliebenen entsteht. Doch hier gibt es eine Schere zwischen Wunsch und Realität, denn um die Belastung gering zu halten, müsste Vorsorge getroffen werden. Allerdings geben 65 Prozent der Befragten aus der Generation X (40 bis 54 Jahre alt) an, noch keine Vorkehrungen für die eigene Beisetzung getroffen zu haben. Ein Grund hierfür kann die "Entrückung des Sterbealters in weite Ferne" aufgrund der weiterhin steigenden Lebenserwartung sein, die sich in der als geringer empfundenen Dringlichkeit für Patientenverfügung, Vorsorgevollmachten, Testament oder Bestattungsvorsorge niederschlägt.

Stigmatisierung beenden

Eklig, hässlich, peinlich – noch immer gibt es zahlreiche Krankheiten, bei denen Betroffene neben körperlichen oder psychischen Leiden auch noch mit den schrägen Blicken ihrer Mitmenschen oder Beleidigungen konfrontiert werden. Vor allem, wenn die Krankheit und deren Symptome sichtbar sind, wie es etwa bei Haarausfall, motorischen Einschränkungen oder chronischen Hautkrankheiten, wie Schuppenflechte (Psoriasis) oder Rosazea, der Fall ist. „In unseren Breiten dominiert ein bestimmtes Ideal von Schönheit, zu dem helle, glatte und makellose Haut gehört. Für Menschen mit Hauterkrankungen, vor allem an sichtbaren Stellen wie Gesicht, Hände oder Haaransatz, bedeutet das oft, dass sie aufgrund der Rötungen oder Schuppungen stigmatisiert werden“, erklärt Professor Dr. Michael Hertl, Direktor der Klinik für Dermatologie und Allergologie am Universitätsklinikum Marburg, in einer Pressemeldung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG). Aus dem Prozess der Stigmatisierung folge meist auch eine Diskriminierung. 

Aufklärung vorantreiben

Ähnlich ergeht es auch Menschen mit HIV, wie eine Online-Befragung des Forschungsprojekts „positive stimmen 2.0“ des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) und der Deutschen Aidshilfe (DAH) im letzten Jahr zutage brachte. Über die Hälfte der Befragten gab an, mit Diskriminierung Erfahrung gemacht zu haben. Dabei ist das HI-Virus unter Therapie nicht mehr übertragbar. „Unsere Untersuchung zeigt klar, dass HIV in unserer Gesellschaft weiterhin mit einem Stigma verbunden ist. Wir brauchen daher weiterhin Aufklärung der Bevölkerung zu den positiven Folgen der HIV-Therapie sowie eine mediale Verbreitung vorurteilsfreier Erzählungen vom Leben mit HIV“, betont Dr. Janine Dieckmann, wissenschaftliche Projektleiterin beim IDZ. Aufklärung über mutmaßliche Tabu-Krankheiten ist nicht nur in der Bevölkerung nötig, sondern auch bei den Betroffenen selbst, die teils aus Scham nicht zum Arzt oder zur Ärztin gehen oder nicht über die neuesten Therapien Bescheid wissen und dementsprechend nicht optimal medizinisch versorgt werden.

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