Neuroimmunologische Erkrankungen

Abwehr auf Irrwegen

Von Tobias Lemser · 2024

Menschliches Nervensystem als Modelldarstellung
Foto: Reflex Verlag / DALL-E

Zwischen fünf und acht Prozent der weltweiten Bevölkerung leiden an einer Autoimmunerkrankung. Einige davon haben teils beträchtlichen Einfluss auf das Nervensystem – so wie Multiple Sklerose, die sich heutzutage immer besser behandeln lässt. Auch in Sachen Ernährung gibt es dazu dank neuer Studienlage vielversprechende Neuigkeiten.

Nicht zu wissen, welche Erkrankung sich hinter immer wiederkehrenden Symptomen verbirgt, kann für die Betroffenen äußerst belastend sein – erst recht, wenn vermeintlich spezialisierte Fachärztinnen und Fachärzte mit den Schultern zucken müssen. Entzündliche, teils seltene neurologische Erkrankungen sind hierfür beispielhaft. Sie können durch Infektionserreger wie Viren, Bakterien oder Pilze verursacht werden – aber auch durch Autoimmunprozesse. Zwar sind derweil zwischen 80 und 100 verschiedene Autoimmunerkrankungen bekannt, dennoch sind die exakte Diagnose und letztlich die Behandlung nicht immer einfach. 

Neuroimmunologische Erkrankungen: Angriff auf eigenes Gewebe

Fakt ist: Nach Herz-Kreislauf- und Tumorer-krankungen sind Autoimmunerkrankungen die dritthäufigste Erkrankungsgruppe. Gerade in den vergangenen Jahren wurde eine stetige Zunahme dieser Erkrankungen beobachtet. Was genau dahintersteckt, ist Gegenstand intensiver Forschung. Werden Autoimmunkrankheiten in manchen Fällen vererbt, können sie ebenso durch das Älterwerden und Umwelteinflüsse, wie Infektionen, Ernährung, Stress oder Umweltverschmutzung, begünstigt werden. 

Dabei zentral ist eine Störung im Immunsystem, welche dazu führt, dass die Toleranz gegenüber körpereigenen Gewebestrukturen schwindet. Es kann nicht mehr zwischen fremden und eigenen Stoffen unterscheiden, sodass es gesundes, körpereigenes Gewebe attackiert.

Grafik: Hatten Sie eines der folgenden Symptome in der letzten Zeit?

Vielfältige Symptome

Prominentester Vertreter auf neuroimmunologischer Ebene ist Multiple Sklerose (MS), bei der allmählich die Nervenhüllen, die Myelinscheiden, vom Immunsystem zerstört werden. Entscheidend dabei sind vor allem die T-Zellen. Man vermutet, dass diese irgendwo im Körper mit einem Stoff in Berührung kommen und dadurch falsch programmiert werden. In der Folge verwechseln sie die Oberfläche des Myelins mit jener von schädlichen Erregern. Fehlt Nervenfasern durch diesen Angriff die schützende Ummantelung, kann die Informationsverarbeitung nicht mehr wie gewünscht funktionieren.

Deutschlandweit sind rund 250.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. Typische Symptome sind Einschränkungen beim Sehen, Gleichgewichtssinn und bei der Koordination. Frühzeitig zu erkennen ist die Erkrankung an Störungen beim Gehen sowie Missempfindungen an Händen oder Füßen. Viele Betroffene leiden außerdem unter dem Müdigkeitssyndrom Fatigue.

Multiple Sklerose: Unheil-, aber behandelbar

Zwar ist die Multiple Sklerose bis heute nicht heilbar, kann jedoch mit Medikamenten verlangsamt werden. MS verläuft bei den meisten Patientinnen und Patienten in Schüben, weshalb man dann von einer schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose spricht. 

Kommt es zu einem akuten Schub, wird ganz klassisch Cortison verbreicht, um die Schwellung um den entzündeten Kern zu verringern. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an Substanzen, die zur Vorbeugung von Schüben eingesetzt werden und gute Wirkung zeigen. Klar ist aber auch: Es steht kein einziges Medikament zur Verfügung, das Patientinnen und Patienten vor sämtlichen neuen Schüben bewahrt. Ziel der Therapie ist es stattdessen, Hirnreserve der Betroffenen zu erhalten, dem Gehirn also die Fähigkeit zu bewahren, auf Schäden zu reagieren.

Gluten: zu Unrecht beschuldigt

Die gute Nachricht: Es gibt inzwischen spannende Ansätze, die Ernährung in die Therapie einzubeziehen. Grundsätzlich raten Fachleute, sich möglichst pflanzlich zu ernähren. Ideal sei eine mediterrane Kost mit viel Gemüse. Eine weitere Erkenntnis laut neuester Forschungsergebnisse der Universitätsmedizin Mainz: Eine weizenhaltige Ernährung wirkt sich negativ auf die MS-Erkrankung aus. Wie der Gastroenterologe Professor Detlef Schuppan, Direktor des Instituts für Translationale Immunologie der Universitätsmedizin Mainz, feststellte, sei jedoch – entgegen vieler Vermutungen – nicht Gluten, sondern sogenannte ATI-Proteine (Amylase-Trypsin-Inhibitoren) dafür verantwortlich: „Sowohl im Tiermodell als auch in einer klinischen Pilotstudie konnten wir zeigen, dass diese bestimmten Proteine die Schwere der MS fördern können.“ ATI-Proteine stehen im Verdacht, bestimmte Entzündungszellen im Darm zu aktivieren, welche zusammen mit begleitenden Botenstoffen ins Gehirn gelangen und dort die Entzündung verstärken. „Eine weizenfreie Ernährung kann die Schwere einer MS wie auch anderer entzündlicher Erkrankungen mildern“, so Schuppan. Da ATI-Proteine auch in anderen glutenhaltigen Getreiden wie Dinkel, Roggen oder Gerste stecken, rät er, ersatzweise zu Brot aus Buchweizen oder Hafer zu greifen.

Augen und Rückenmark im Fokus

Inwieweit ATI-Proteine bei einer ähnlichen Erkrankung, der Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung, kurz NMOSD, eine Rolle spielen, muss noch genauer erforscht werden. Fest steht lediglich, dass auch bei dieser seltenen Autoimmunkrankheit eine ausgewogene Ernährung von Bedeutung ist. Bei NMOSD werden infolge einer Fehlfunktion des Immunsystems in der Regel hauptsächlich Augen und Rückenmark angegriffen. Jedoch ist der Verlauf der Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen bei jedem Patienten anders. Neben kurzen, häufigen und schmerzhaften Muskelkrämpfen können auch Erblindung, Empfindungsverluste und Muskelschwäche in den Gliedmaßen sowie Blasen- und Darmfunktionsstörungen auftreten.

Zwar kann NMOSD bisher nicht geheilt werden, durch rasante Fortschritte in der Wissenschaft ist diese Erkrankung jedoch aktuell bei den meisten Patientinnen und Patienten gut therapierbar – so auch bei der MOG-Antikörpererkrankung, einem weiteren Vertreter der seltenen neuroimmunologischen Erkrankungen, bei der sehr häufig Seh- und Gefühlsstörungen sowie Lähmungen der Extremitäten und des Rumpfes auftreten. Klar ist dennoch: Für Forschende bleibt noch immens viel Arbeit, um Leidgeplagte schneller und besser zugunsten einer höheren Lebensqualität versorgen zu können.

Schon gewusst?

Rund jede fünfte Person mit Multiple Sklerose ist wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit vorzeitig berentet.

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